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Die "Blaue Mütze"

Gasthof, Gartenlokal, Wirtshaus Lazarett und Vereinsheim.

Die später als „Blaue Mütze“ bekannte Gaststätte befand sich nordwestlich des Ranstädter Tores. Eine Sackgasse östlich des Pleißemühlgrabens endete an dem Haus..

„Auf Betreiben von Hieronymus Lotter schuf der Leipziger Rat 1557 aus drei auf Gartengrundstücken befindlichen Häusern an oben beschriebener Stelle ein Vorwerk, wobei der Name Alte Burg auftaucht. Mit diesem Namen wird 1784 die Gasse bezeichnet, die dahin führt.[3] Als um 1700 dort eine Gaststätte entstand, dürfte sie wohl auch so benannt gewesen sein. In den 1740er-Jahren ist von der „Blauen Mütze“ die Rede, weil angeblich der Wirt stets eine blaue Zipfelmütze trug. Wer von den Wirten das war, bleibt widersprüchlich. In einem Baubesichtigungsprotokoll von 1745 ist von der „vormals genannten blauen Mütze“ die Rede, während das Stadtlexikon Leipzig die Mütze dem Gastwirt Heinrich Jäger zuschreibt, der Ende des 18. Jahrhunderts bis 1803 der Wirt war. Zu dieser Zeit soll die Blaue Mütze ein berüchtigtes Spielerlokal gewesen sein. Bei Johann Gottlob Schulz heißt die Einrichtung 1784 Reichischer Kaffeegarten.“
„Nach der Völkerschlacht waren in den Räumlichkeiten der Blauen Mütze über 500 Verwundete untergebracht. 1842 erfolgte ein umfassender Umbau. Es entstand ein Tanzsaal, Wiener Saal genannt. In den Sommermonaten gab das Theater Gastspiele.
Das Restaurant war auch ein bekannter Versammlungsort.“ (1)
Am 19. Februar 1861 wurde in der „Blauen Mütze“ unter Leitung von Oskar Mothes der „Gewerbliche Bildungsverein“ gegründet. Mit Beitritt zu diesem Verein begann August Bebels politische Laufbahn. „Aus diesem Verein ging der Verein „Vorwärts“ bzw. 1865 der erste wirkliche Arbeiterbildungsverein Leipzigs hervor.“ (4) In diesem wirkte neben August Bebel auch Wilhelm Liebknecht mit.

Blaue Mütze und Wiener Saal, Photographie von 1865; Quelle (1)

Rettung eines Abrisshauses.

Wie so viele Mietshäuser befand sich das Haus Lortzingstraße 6, gleich hinter dem Naturkundemuseum in den 1990er Jahren in einen bedauernswerten Zustand. Ein hoher Sanierungsbedarf, der nicht erfüllt werden konnte, machten die Häuser teilweise zu mieterlosen (Fast)Ruinen. Und das trotz erheblicher nachfrage nach Wohnraum in der DDR. Doch ruinöse Basis und der Mangel an Baumaterial ließen so manchen „Selbstsanierer“ zurückschrecken.

Blick vom Dach »Blaue Mütze« 1988, Foto: Jens Scholz
Blick vom Dach »Blaue Mütze« 1988, Foto: Jens Scholz

Ein Zeitzeuge berichtet:
„Leipzig 1989 - Einen Wohnungsmarkt, der Angebot und Nachfrage regelte, gab es in der DDR nicht. Wohnungen wurden ausschließlich vom Staat zugewiesen, und die Wartezeiten betrugen oft mehrere Jahre. Für junge Familien war es nahezu unmöglich, auf legalem Weg halbwegs bewohnbaren Wohnraum zu finden.
Im Herbst 1984 zog ich daher ungefragt in eine leerstehende Wohnung in der Lortzingstraße 6 ein. Angesichts des organisierten Mangels in der DDR nahm ich gemeinsam mit einigen Freunden im Frühjahr 1989 die Initiative in die Hand und startete das Projekt „Blaue Mütze“ in der Lortzingstraße. Finanzielle Mittel standen uns keine zur Verfügung. Stattdessen investierten wir 4.800 Stunden freiwillige Arbeit in die Sanierung des Gründerzeithauses „Blaue Mütze“.“ (2)

Das Haus befand sich in keinem guten Zustand wie das damals erstellte Holzgutachten beweist: 

Mahnender Hinweis darin:

"Achtung Echter Hausschwama! Muldepflicht an die Staatliche Bauaufsicht beachten!"

 

Viel musste bei der umfassenden Sanierung des maroden Gebäudes durch Eigeninitiative herausgerissen und erneuert werden. Das o.g. Gutachten beschreibt die erforderlichen Maßnahmen detailliert. Da fällt eine Menge Material an, die aus dem Haus gebracht und vorerst abgelagert werden mussten. An ein Verbringen in einen Schuttcontainer, wie heute in solchen Fällen üblich, oder einen sofortigen Abtransport zur Entsorgung durch einen Leih-LKW, war zur damaligen Zeit nicht zu denken: Mangelwirtschaft!
Stattdessen: Auf soviel Eigeninitiative reagierte die Stadtverwaltung Leipzig am 8. November 1989 mit einer Ordnungsstrafverfügung. Die angedrohte Geldstrafe in Höhe von 1.500,00 Mark wurde wenigstens später in einen Verweis umgewandelt:

Wie schon oben erwähnt, schreibt man dem Wirt Heinrich Jäger die Eigenart zu, stets eine blaue Mütze getragen zu haben. Heute würde man sagen: marketingtechnisch gelungene Eigenart mit Wiedererkennungseffekt. Wenn es in seiner Lokalität Konzerte gab, soll er seine Mütze symbolisch an den Eingang gehängt haben. Später entwickelte sich wohl das Lokal zur berühmt-berüchtigteren Zockerhöhle. Ein Chronist berichtet: „Es mochte donnern und blitzen, hier nahm man keine Notiz davon; man starrte nur auf die Kartenblätter und wog dabei seine Chancen ab…“ Der Wirt duldete das Glücksspiel um Geld, teils bis in die frühen Morgenstunden. Nicht ohne Eigennutz, denn der Wirt verdiente kräftig mit. Wie überliefert ist, soll er jährlich nicht weniger als 1000 Taler als Kartengeld eingenommen haben. Kein schlechtes Sümmchen, so das Jäger dann 1804 sein Lokal verpachtete und die Mütze an den Nagel gehängt hat.

Auffrischung mit Trabbi-Lack.

Aber irgendwie hat dann die "Blaue Mütze" Ihre „Ausstrahlungskraft für ausschweifenden Frohsinn“ nie recht verloren. Denn nachdem das Haus, an dem sich das markante Hauszeichen nunmehr befindet, in den 1990Jahren von der Ruine in ein bewohnbares Mietshaus verwandelt wurde, gab es ein ordentliches Straßenfest. Ein damaliger Mieter berichtet: „Als dann alles geschafft war, haben wir so richtig einen drauf gemacht: mit Straßenfest und so.“ (3) Was dann mit dem Hauszeichen passierte ist eine ganz eigene Geschichte und wert sie zu erzählen:

Unter den Gästen des besagten Hausfestes war auch der Kabarettist Meigl Hoffmann. In ausgelassener Stimmung kam man auf die alberne Idee, die Zipfelmütze, Teil des Hauszeichens blau anzustreichen. Schließlich war das Haus ja als "Blaue Mütze" bezeichnet, wie der Schriftzug auf dem Türbalken unterhalb des Hauszeichens offenkundig verlauten ließ. Mit blauem Reparaturlack (eigentlich gedacht für die Schrammenbeseitigung des Trabbis eines Hausbewohners) verpasste Meigl dem Hauszeichen einen neuen Anstrich. Nun war die blaue Mütze wirklich blau ;-) Eigentlich wollte er die Mütze rot anmalen aber rot war gerade nicht, wäre dann aber auch unpassend gewesen. Mangelwirtschaft hat manchmal auch gute Auswirkungen. Obwohl, hinsichtlich der Vereinsgeschichte im Haus hätte das auch irgendwie Bezug gehabt. 

Ansicht des Hauszeichens vor der umfassenden Restaurierung des Hauses / Quelle (5)
Ansicht des Hauszeichens vor der umfassenden Restaurierung des Hauses / Quelle (5)

Was der „Täter“ ausführlich dazu zu berichten weiß:
„Auf einem Tisch stehend balancierte ich vor dem Portal, streckte mich und hab die Mütze mit Trabi-Lackfarbe bepinselt, die Farbe wurde aufgesogen wie von einem Schwamm und ergab eine denkmalverdächtige Kolorierung. Als das Haus saniert werden sollte, haben die vom Denkmalschutz doch tatsächlich geglaubt, dass die Bemalung historischen Ursprungs sei, da haben sie sie wieder aufgewertet und auch die Wandbemalung im Treppenhaus danach ausgerichtet. Hahaha!“

Anmerkung: Herzlichen Dank an Herrn Scholz, der mir die Erlaubnis erteilte, seine zum Teil sehr persönlichen Zeitzeugen-Dokumente inklusive Fotomaterial  verwenden zu dürfen:

"Sie dürfen gern Bilder und Ordnungsstrafverfügung verwenden und veröffentlichen. Ich habe nichts dagegen, wenn meine Name sichtbar bleibt. Das ist meine Geschichte, so waren die Realitäten."